Dieses Blog durchsuchen

28. Januar 2011

Die Rathauslinde und das vierblättrige Kleeblatt


Auf dem Marktplatz in Neubrandenburg, unweit  des Rathauses, stand in alten Zeiten eine herrliche Linde, die noch aus den Jahren der Stadtgründung stammte. Sie hatte vier mächtige Äste – weit ausgebreitet beschatteten sie fast den ganzen Platz. Der Baum übertraf in seiner Höhe bei weitem den Rathausturm mit der Hahnenwetterfahne. Seine Krone war ein Eldorado der Wildtauben geworden.
Eine Tages kam durch das neue Tor ein absonderlich gekleideter fahrender Schüler, der die Aufmerksamkeit vieler Bürger erregte. Er trug schwarze Schuhe mit silbernen Schnallen. Rote Strümpfe, hellgelbe hirschlederne Beinkleider, ein rotes Mäntelchen mit schwarzen Fransen und ein schwarzes Barrett mit buntschillernder Hahnenfeder. An der Seite hing ein spitzer Degen und ein Täschchen mit einem Riemen über die Schulter zu tragen, während er unter dem Arm eine zierliche Klampfe verborgen hielt. Sein Gesicht war schmal und sehr gebräunt, ein kurzer schwarzer Schnurrbart über dem frivolen Mund und funkelnde schwarze Augen spähten listig umher. Offenbar kam er aus südlichen Landen.
Die Sage berichtet: „Es stand auf seiner Stirn geschrieben, dass er nicht könne eine Seele lieben.“
War es Till Eulenspiegel? – vom Äußerlichen ja, doch der Spruch auf der Stirn  sagte deutlich, nein – aber vielleicht hatte sein hinkender magerer Fuß eine Verwandtschaft mit dem Teufel?
So stolzierte er gemächlich auf den Marktplatz zu. Dort angekommen, stieg er auf einen der schon leergeräumten Tische der Schlachterscharren, nahm seine Klampfe und begann ein Tanderadei aufzuspielen, das nach kleiner Kurzweil viele neugierige Bürger anlockte. Er hielt den staunenden Gaffern wunderliche Reden. Er könne mehr als andere und gar als die Neubrandenburger. Er würde ihnen jetzt vorführen, dass er in das geschlossene Innere  des Baumes klettern und bis zur höchsten Höhe der Zweige steigen könne. Und mit affenartiger Geschwindigkeit war er verschwunden im Dickicht der vielen belaubten Äste. Die höchsten Zweige begannen durch das Hin und Her seiner Kletterkünste zu rauschen – es war recht unheimlich geworden.

„Da kam die Straß´ von ungefähr ein Mädchen mit dem Krautsack her.
Das hat gefunden bei dem Pflücken ein Kleeblatt mit vier Blätterstücken.“

Das Mädchen mit dem Glücksblatt in der Hand trat unter die Menge und erkannte sofort das Gauklerspiel und den Betrug des fahrenden Schülers.
(C) Elke Riedel
„Was steht ihr hier und gafft das an, was der tut, das kann jedermann.
Er kriecht da oben nur herum, ihr lieben Leut´, was seid ihr dumm!“

Als der fahrende Schüler das vernommen, packte ihn die Wut, dass dies Mädchen seine Schliche erkannt hatte. Er hatte doch das Volk auf seiner Seite gehabt, sie glaubten bereits, dass er durch das Innere des Baumes geklettert sei, obwohl sie wussten, dass der Baum innen keineswegs hohl war.

Hier half nur eins, um den Sieg auf seiner Seit zu behalten: das Mädchen musste verhext werden. Und so geschah es dann auch. Von Stund an war das Mädchen krumm und lahm, ein gesundes Gehen war ihr nicht mehr beschieden. Viele Ärzte versuchten der Armen zu helfen. Aber was sie auch ersannen, nichts half ihr wieder auf die Beine. Erst als der Tod sie von ihrem Leid erlöste, wurde sie wieder gerade und ihr Antlitz verklärte sich, wie damals, als sie unter der Linde mit ihrem Krautsack stand und das kleine vierblättrige Kleeblatt in den Händen hielt.
Der fahrende Schüler war der leibhaftige Teufel, das war nun allen klar, die diese Geschichte miterlabt hatten.

Aus: Annalise Wagner: Die Teufelsmühle : und andere Sagen von Drachentötern, Räubern und Wiedergängern / Annalise Wagner. Ill. von Werner Schinko. - 1. Aufl. - Neustrelitz : Karbe-Wagner-Archiv, 1973. - 79 S. : Abb.  - (Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs ; Heft 13)