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9. März 2011

Der Hesterstein


Findling (C) Uni Greifswald - mehr Infos unter: Datenbank Findlingsgärten

In jeder größeren Stadt unseres Landes gab es eine Art Kaak, einen Pranger, an dem lasterhafte Weibspersonen, zänkische  uns klatschsüchtige Naturen öffentlich zur Schau gestellt wurden. In Neubrandenburg war dieser Pranger der Hesterstein in der Nähe der Beguinenstraße, hart an der Stadtmauer sich befand. Einmal soll er an der Nemerower Seite unterhalb des Aussichtsturmes gestanden haben. Er war stets ein vielbesuchter Ort für alle sensationssüchtigen Bürger und die Straßenjugend.

Nachdem das Urteil über so ein weibliches Lästermaul vor besetzter Gerichtsbank, vor Richter und Rat oder früher vor Schulze und Schöppen publiziert und damit ohne weiteres rechtskräftig geworden, auch der Tag und die Stunde der Vollstreckung festgelegt und vom Ausrufer und Stadtdiener öffentlich bekannt gemacht wurde, versammelte sich zur bestimmten Stunde die schaulustige Menge wie zu einer öffentlichen Belustigung, um das Opfer zu erwarten.
Mit lautem Gekreische und hocherhobenen Armen wurde die Delinquentin empfangen. Mit auf den Rücken gebundenen Armen wurde sie an den Hesterstein geschleppt, ohnmächtig vor der rohen Gewalt der Gerichtsknechte.
Einige Stunden musste sie so angebunden am Pranger stehen und sich der Rohheit und gemeiner Kränkungen der Gaffer aussetzen. Dass diese „Rechtspflege“ nicht spurlos an der Frau vorüberging, ist verständlich. Fluch und Hass auf Bürger und Stadt oder Staat waren der „Erfolg“ solcher Prangermethode. Oft auch war der Selbstmord der Ausweg solchen Strafvollzugs. Und an diesen letzten Schritt hat die Sage folgendes angeknüpft:


In gewissen Nächten trabt zur Geisterstunde vom Rathaus her über den Marktplatz  in die Beguinenstraße hinein auf den Hesterstein zu, wenn der Wind die Wolken über die Mondsichel treibt, in schwerfälligen und eigentümlichen Takt ein Pferd heran, ein dreibeiniger Schimmel, alt, schmutzig und abgezehrt. Je näher er dem Hesterstein kommt, desto keuchender schnaufen seine Lungen und um so schwankender  wird sein Gang.
Endlich steht er vor dem Hesterstein. Dort bricht er zusammen.
Ruhe und Erlösung findet er jedoch nicht. Mühsam richtet er sich wieder auf und trabt dreimal am Hesterstein hin und her.
Mit dem Schlage Ein Uhr verschwindet er, als ob ihn die Erde verschlungen hätte.
Wer dem alten Schimmel auf seinem Rundgang  begegnet ist, der wird den Anblick des abgezehrten Dreibeiners nicht wieder los.

Darum, wer das merkwürdige Traben und Schnaufen nachts schon von der Ferne hört, eilt davon, um diesem Geisterspuk nicht begegnen zu müssen.


Aus: Annalise Wagner: Die Teufelsmühle : und andere Sagen von Drachentötern, Räubern und Wiedergängern / Annalise Wagner. Ill. von Werner Schinko. - 1. Aufl. - Neustrelitz : Karbe-Wagner-Archiv, 1973. - 79 S. : Abb.  - (Schriftenreihe des Karbe-Wagner-Archivs ; Heft 13)