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25. Januar 2011

Der Nagelschmied aus der Badstüberstraße

Annalise Wagner : Der leichtfertige Nagelschmied
Aus: Sursum Corda - Konzertkirche St. Marien  Neubrandenburg / hrsg. von Urte Weindich. - 1. Aufl. - VanDerner , 2005. - 256 S. : Abb; S.: 63 
Andreas Gottlieb Wüsten war stadtbekannter Nagelschmied, der seinen Familiennamen wohl zu Recht bekommen hatte. Er führte ein leichtfertiges Leben und sein Brotberuf, bei dem ihm seine junge rotblonde Berta half, brachte ihm nicht viel ein -  jedoch so viel, dass er dem Krugwirt täglich noch etwas davon  zukommen lassen konnte. Kinder hatte er nicht, obgleich sein Eheweib hitziger Natur war – jedoch war er deswegen nicht gerade unglücklich und fühlte sich nicht vom Schicksal benachteiligt, jedenfalls ließ er sich dergleichen nie anmerken. Denn hätte er Kinder gehabt, könnte er nicht Stammgast beim Krugwirt sein – noch dazu mit der Berta, die solchermaßen gern an den Abenden ihren Schmied begleitete.Großmäuligkeit brachten die geistigen Getränke so mit sich und die war ihm sowieso schon mit in die Wiege gelegt. Er nahm den Kampf mit Gott und dem Teufel unbeirrt auf und rühmte sich eines Tages um die Geisterstunde bei mondheller Nacht  im November in einen der großen Särge  in der St. Marienkirche, die in einem westlich gelegenen verschlossenen Vorraum der Kirche standen (später in der Turmkammer, es sind etwa 60 Särge gewesen mit einbalsamierten Leichnamen), einen selbst geschmiedeten Nagel einzuschlagen. So ein Nagelschmied ist auch mit Schlosserarbeiten vertraut, und verschlossene Türen zu öffnen, war für unseren Andreas Gottlieb Wüsten keine Schwierigkeit.Als er sich nun dieser immerhin absonderlichen Tat zur Geisterstunde vor seinen Trinkbrüdern rühmte und sich auch gehörig Mut zu dessen Ausführung angetrunken hatte, waren Angst und Grauen vor seiner eigenen Vorwitzigkeit verschwunden.
 
„Des Turmes Fahne jagt der Wind. Schnell geht der Wolkenzug, des Mondes Sichel wankt, und durch die Nacht zuckt ungewisse Helle!“
Als Wüsten die Tür öffnet, ertönen zwölf Schläge zur Mitternachtsstunde vom Glockenturm herunter. Unheimlich Schatten werfen die alten Linden durch die mondhelle  Nacht in die hohen Kirchenfenster. Die Schleiereulen rufen herunter – mahnen Wüsten zur Umkehr. Wüsten erschauert und steht wie gebannt im Kirschenschiff, Angstschweiß perlt ihm von der Stirn – aber er besitzt Ehrgeiz in diesem Kampf zwischen Gut und Böse; nur schnell ans Werk – kein Geist hat ihn bisher gehindert. Er holt Nagel und Hammer aus der Tasche, ist bereit an einem alten silberbeschlagenen Sarg den Nagel einzuschlagen – jedoch wie gebannt muss er innehalten. Es ist ihm, als halte jemand seine Hand fest und als habe sich der Sargdeckel geöffnet. Ein jäher gewaltiger Aufschrei durchhallt die große Kirche  und Wüsten bricht am Sarg in die Knie. Der Nagelschmied Wüsten aus der Badstüberstraße war tot zusammengebrochen. Der große Nagel, den er selbst geschmiedet hatte, wurde so zum Nagel seines eigenen Sarges.



(C Museum Stolberg)

Wer mal einen Blick in eine Nagelschmiede werfen will, kann das unter folgendem Link: Museum Stolberg, aber geschmiedete Nägel kann man sicher auch in den Museen unserer Region entdecken; zum Beispiel in der Burg Stargard.